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Gott, hast du uns verlassen?
Fassungslos höre und lese ich die Nachrichten, die täglich aus der Ukraine zu uns dringen. Folgt man den Einschätzungen von Experten, ist ein baldiges Ende des Krieges nicht in Sicht. Ähnlich wie bei der ersten Corona-Welle werden unzählige Menschen erneut von einem Gefühl der Ohnmacht überwältigt. In den letzten Wochen haben mich zahlreiche Briefe mit Vorschlägen erreicht, wie man als Kirche ins Tun kommen könnte und sich mit den Kriegsopfern solidarisiert. Vieles davon wurde auch umgesetzt: öffentliche Gebete, Spendenaktionen, Glockengeläut, Versammlungen für den Frieden, Kerzen anzünden usw. Nicht allein zu bleiben, sondern gemeinsam zu handeln, hilft uns, die bleibende Ohnmacht auszuhalten.
Wir brauchen die Gemeinschaft, denn langer Atem ist gefragt. Unsere Gebetstradition gründet in der Erfahrung, dass es eine Solidarität unter den Menschen gibt, welche räumliche und zeitliche Barrieren aufsprengt. Ein unsichtbares Band verbindet uns nicht nur weltweit, sondern auch mit Generationen vor und nach uns, welche sich mit all ihrem Kummer und ihren Hoffnungen Gott zuwenden. Besonders eindrücklich spüre ich die Verbundenheit dieser Gemeinschaft beim täglichen Beten der Psalmen. Sie sind gleichsam der lange Atem des Volkes Gottes. In eindrücklichen Bildern bringen sie Freuden und Leiden von Menschen zum Ausdruck.
Psalmen helfen mir, ins Handeln zu kommen und die dennoch verbleibende Ohnmacht auszuhalten. Am Karfreitag zitiert die Johannespassion mehrfach Psalm 22. Im Sterben Jesu, in jedem einzelnen Schicksal kriegsversehrter Menschen, begegnen sich Ohnmacht und Hoffnung.
+Felix Gmür
Bischof von Basel