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Hirtenwort 2022: «Wüstenzeit ist Gotteszeit»

Bischof Felix Gmür bei der Wüste Juda

Liebe Schwestern und Brüder

Der Schauplatz im heutigen Evangelium ist die Wüste. Jesus ist im Niemandsland, zurückgeworfen auf sich selbst. Von der Schweiz aus gesehen ist die Wüste zwar weit weg, aber Wüstenerfahrungen kennen wir alle. Wenn wir zum Beispiel ganz allein für uns sind. Draussen auf einer Wanderung oder einem Spaziergang, ohne Ablenkung, mit viel Raum für Gedanken. Sie kommen von selbst, schöne und zum Teil auch unangenehme und unerwünschte Gedanken. Drinnen haben manche von uns während der Coronazeit schmerzliche Wüstenerfahrungen gemacht. Sorgen, ungewisse Perspektiven, Ängste, vielleicht Einsamkeit.

Auch Gemeinschaften wie die Kirche kennen Wüstenzeiten. Das hat die Vernehmlassung im Rahmen des synodalen Prozesses einmal mehr vor Augen geführt. Viele Menschen fühlen sich von der Institution Kirche nicht gehört. Frauen erfahren, dass sie mancherorts daran gehindert werden, ihre Charismen für andere Gläubige zum Segen werden zu lassen. Manche Menschen, welche in einer Partnerschaft leben, welche die Kirche nicht anerkennt, fühlen sich ausgeschlossen und im Glaubensleben alleingelassen. Auch Jugendliche fühlen sich nicht überall ernst genommen. Dazu kommen die sexuellen Missbräuche, welche immer wieder zutage treten. Jeder einzelne Übergriff ist eine Katastrophe. Für viele Menschen ist die Kirche eine Wüste, weil sie ihr Leben als Christin und Christ nicht fördert, sondern erschwert und ihnen Steine in den Weg legt.

Getaufte Christinnen und Christen machen mit der Kirche Wüstenerfahrungen, ja die ganze Kirche macht eine Wüstenzeit durch.

Nach der Taufe ist auch Jesus in der Wüste. Er ist ganz auf sich allein gestellt und scheint auf verlorenem Posten. Denn sogleich wird er mit Versuchungen konfrontiert. Die Wüste ist ein Ort der Versuchung und Bewährung. Zugleich ist sie ein Ort der besonderen Gottesnähe. Erinnern wir uns nur an das Volk Israel, welches vierzig Jahre durch die Wüste wanderte. Immer wieder kam es dabei zu heftigen Krisen. Und trotz allem hat Gott sein Volk nicht im Stich gelassen, auch nicht in der Krise. Trotz aller Konflikte hat er das Volk Israel immer wieder gesegnet. Daran erinnert uns die erste Lesung des heutigen Tages. Die Zeit der Krise, die Wüstenzeit ist für das Volk Israel zugleich Zeit der besonderen Gottesnähe. Wüstenzeit – Gotteszeit?

Im Lukasevangelium ist die Wüstenzeit von Jesus auch eine Gotteszeit. Denn Jesus irrt in der Wüste nicht umher, sondern wird vom Geist herumgeführt. Gottes Geist wirkt im Hintergrund und lässt ihn klar denken. Das ist nötig, weil das Böse, das Teufel genannt wird, Jesus durcheinanderbringen will. Das deutsche Wort Teufel kommt vom griechischen Wort „diabolos“. Wörtlich heisst das „Durcheinanderbringer“. Missstände, in der Sprache der Kirche „Sünden“, beginnen dort, wo Beziehungen durcheinandergebracht werden. Bei Jesus ist es die Beziehung zwischen Gottvater und dem Sohn, welche gestört werden soll. In unserem Leben sind es Beziehungen unter Menschen, die Beziehung zur Schöpfung und die Beziehung zwischen Mensch und Gott. Wir alle wissen aus Erfahrung, dass Beziehungen nicht immer nur einfach, sondern oft mit Arbeit verbunden sind. Dort, wo Beziehungen nicht gelingen, liegt etwas im Argen, ist etwas durcheinandergebracht, Wüste.

Wenn sich getaufte Christinnen und Christen in der Institution Kirche nicht heimisch fühlen, wenn ihnen sogar Unrecht angetan wurde, dann sündigt die Kirche. Ihre Beziehung zu den Menschen ist nicht im Lot. Es herrscht ein Durcheinander.

Beziehungsarbeit ist gefragt, damit auch in der Kirche die Wüstenzeit zusehends zu einer Gotteszeit wird. Um die Beziehung der Menschen in der Kirche und der Kirche zu Gott wieder ins Lot zu bringen, hat der Papst einen „synodalen Weg“ ausgerufen. Es ist ein Gang durch die Wüste, um von den Abwegen wieder auf den guten Weg zu kommen.

Dabei gilt es, genau hinzuschauen und hinzuhören. Dann wird man gemeinsam erkennen, wo welches Durcheinander zu entwirren ist. Für unser Bistum werden die verschiedenen Räte und Gremien zusammen mit interessierten Personen die vielen Stimmen und Anregungen aufnehmen und konkrete Schritte vorschlagen. Ich danke an dieser Stelle allen, welche sich in den synodalen Prozess einbringen, an den Vernehmlassungen teilgenommen haben oder auf eine andere Art und Weise den synodalen Prozess mitprägen. Grundlegend ist für uns alle, eine synodale Kultur zu etablieren und zu leben. In dieser Kultur kreist die Kirche nicht um sich selbst, sondern alles Leben der Kirche ist auf Jesus Christus ausgerichtet. In den Pfarreien und Pastoralräumen könnte man sich bei allem, was man unternimmt oder plant, fragen: „Hilft das wirklich, den Glauben ins Spiel zu bringen?“ In einer synodalen Kultur geht es nicht um Interessen einzelner Personen oder Gruppen, sondern um den Anspruch des Glaubens, allen eine religiöse Heimat zu bieten und vielfältige Räume zu öffnen, damit die Menschen Erfahrungen mit Gott machen können.

Wie Jesus sind aber auch wir Versuchungen ausgesetzt. Oft geschieht das Durcheinander auch ganz subtil im Kleinen und Unscheinbaren. Sogar sehr gutgemeinte kirchliche Initiativen können blutleer werden, wenn sie nicht vom gelebten Glauben durchtränkt sind. Es ist kein Zufall, dass der Teufel, wenn er Jesus versuchen will, gleich zweimal Jesus mit den Worten „Wenn du der Sohn Gottes bist, dann…“ anredet. Damit spielt er auf die Taufe von Jesus an, die unmittelbar vor der Zeit in der Wüste stattgefunden hat. Sohn Gottes, so wird Jesus von Gottvater in der Taufe genannt. Der Teufel verdreht mit seinen Versuchungen das, was in der Taufe geschehen ist. Er versucht einen Keil zwischen Jesus und den Vater zu treiben. Er scheut nicht davor, dafür sogar aus der Bibel zu zitieren und das Wort Gottes so zu instrumentalisieren. Diese Art von Instrumentalisierung gibt es auch in der Kirche.

Um dieser und anderen Formen der Instrumentalisierung des Glaubens entgegenzuwirken, braucht es einen klaren und weitsichtigen Blick. So notwendig es den vielbesagten Reformstau anzugehen gilt: Allein damit wird die Kirche sich nicht aus der Krise befreien können. Wüstenzeit wird dann zur Gotteszeit, wenn im Erneuerungsprozess getaufte Christinnen und Christen ihren Glauben über die Grenzen der Kirchenmauern hinaus bezeugen und daraus leben. Wir alle sind in verschiedenen Bereichen zum Krisenmanagement berufen. Die Würde, Verantwortung und Kraft dafür haben wir in der Taufe erhalten. Der Heilige Geist führt nicht nur Jesus durch die Wüste. Er ist allen Getauften zugesprochen.

Wir stehen am Beginn der Fastenzeit, der Zeit der Besinnung und Umkehr. Die Wüstenzeit der Kirche wird weit mehr als vierzig Tage dauern. Teil dieser Kirche zu sein, ist für viele Menschen derzeit eine grosse Herausforderung, manchmal auch eine Zumutung. Die Zumutung wird hoffentlich tragbarer, wenn wir uns immer wieder neu in Erinnerung rufen, dass Gott wie bei Jesus gerade auch in der Wüstenzeit unser Begleiter ist. Sein Geist wirkt und verändert uns gerade in der Krise. Wüstenzeit ist Gotteszeit.

Mit allen guten Segenswünschen Ihr

+ Felix Gmür, Bischof von Basel
 

Hirtenwort zum Herunterladen

Hirtenwort 2022 DE (PDF, 131 Ko)
Hirtenwort 2022 FR (PDF, 162 Ko)
Hirtenwort 2022 IT (PDF, 140 Ko)