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Es ist wichtig, ein Zeichen zu setzen

Er engagiert sich stark für den Klimaschutz, für Flüchtlinge und für die Dritte Welt. Manche seiner Aussagen könnten auch von der SP stammen. Doch Bischof Felix Gmür wehrt sich: Er politisiere nicht links, sondern gehe einfach den «rechten Weg».

Lucien Fluri, Solothurner Zeitung

Bischof Felix, seit einigen Wochen leben unter Ihrem Dach Asylsuchende. Hat sich Ihr Alltag verändert?

Nein.

Sie merken gar nichts?

Wir sehen ab und zu Kinder, die in die Schule gehen, spielen oder Velo fahren. Wir spüren die Präsenz, wenn wir die Menschen sehen: Es ist lebendig. Als es geschneit hat, gingen die Kinder raus; das war super.

Ein SMS-Schreiber fand: «Bischof Gmür, wir hätten auch arme Schweizer, die Sie in Ihr Haus aufnehmen könnten. Aber Flüchtlinge sind ja so medienwirksam.» Betreiben Sie Symbolpolitik?

Das Bistum macht weder Symbolpolitik noch sonst Politik. Die Flüchtlinge sind hier. Sie kommen unangemeldet und müssen irgendwo sein. Also frage ich mich als Christ: Was kann ich tun, das wirksam ist und mich nicht überfordert? Wir hatten ein Haus, das wir freimachen konnten. Fünf Mitarbeiter sind umgezogen. Dort wohnen jetzt die Flüchtlinge.

Millionen Menschen sind auf der Flucht. Was hilft Ihr Beitrag?

Dieser Beitrag hat zwei Wirkungen. Die erste ist: Es ist Not am Mann im Kanton. Ich stelle dem Kanton, beziehungsweise der Stadt, Wohnraum zur Verfügung, den sie nicht haben. Hier helfe ich ganz konkret. Was ich mache, hat aber auch Wirkung in die Gesellschaft hinaus; vor allem in die Pfarreien und Kirchgemeinden. Vielleicht haben sie dort ja auch Immobilien, die sie zur Verfügung stellen könnten.

Bisher hat man im Kanton nicht allzu viel Engagement von weiteren Kirchgemeinden gespürt.

Wichtig ist, dass das Engagement der Pfarreien und Kirchgemeinden praktikabel ist. Sie dürfen sich nicht überfordern. Eine gute Art ist es, Immobilien zur Verfügung zu stellen. Eine zweite Art ist es, Freiwillige dazu zu motivieren, dass sie sich bei den jeweiligen kantonalen oder kommunalen Stellen melden. Ich selbst kann nur motivieren. Schon an der Chrisam-Messe vor Ostern rief ich die Seelsorgerinnen und Seelsorger auf: Fragt bei euch, ob jemand einen Raum hat. Was dann am Ende passiert, kann ich nicht befehlen. Diese Immobilien gehören nicht mir.

Sie begründen Ihr Engagement aus christlicher Haltung heraus. Die Mehrheit der Schweizer sind Christen. Viele machen Ihnen das Engagement nicht nach, sondern wehren sich gegen Asylzentren.

Man kann nicht sagen, dass die Bevölkerung nicht mithilft. Es gibt Pfarreien, die super Sachen machen. Das Kloster Einsiedeln beherbergt seit Jahren Flüchtlinge. Aber Ängste kommen, weil man die Leute nicht kennt. Man kennt sie nicht, weil sie abgeschottet sind oder aus einer fremden Kultur kommen. Aber Angst ist kein guter Berater. Jetzt sind die Leute hier.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie sich in der Flüchtlingsdiskussion ohnmächtig fühlen. Hat sich dies geändert, indem Sie Flüchtlinge aufgenommen haben?

Ich bin nach wie vor ohnmächtig wie wohl die meisten Leute. Es kommen Tausende, Abertausende Menschen aus unterschiedlichen Gründen über irgendwelche Wege. Menschen, die vielleicht traumatisiert oder verfolgt sind. Wir sind gefordert. Aber wir wissen nicht, was wir tun sollen. Sollen wir alle hier behalten, oder sollen wir alle zurückschicken? Weder das eine noch das andere können wir tun. Um im Einzelfall zu entscheiden, gibt es das staatliche Asylverfahren. Der Flüchtling wird als solcher anerkannt, er wird vorläufig aufgenommen oder das Asylgesuch wird abgelehnt.

Seit Paris steht der Islam im Fokus. Auch bei Ihnen hatte man das Gefühl, dass Sie muslimische Flüchtlinge am Bistumssitz zwar nicht ablehnen, aber doch froh sind, wenn Ihnen Christen zugeteilt werden.

Genau. Es gibt verschiedene Arten der Verfolgung – politische, ethnische, religiöse. Natürlich sind wir offen, alle Menschen aufzunehmen. Aber in dieser Umgebung hier ist es gut, wenn Christen darunter sind. Sie fühlen sich mutmasslich wohler. Gleichzeitig ist es wichtig, ein Zeichen zu setzen, dass es Christinnen und Christen gibt, die wegen ihrer Religion verfolgt werden. Das Christentum ist noch immer die am meisten verfolgte Religion der Welt.

Wäre es nicht ein schönes Zeichen, wenn ein Bischof Muslime aufnimmt; gerade vor dem Hintergrund der Terroranschläge, wo Religion instrumentalisiert wird und Ängste ausgelöst werden, die viele Muslime zu Unrecht treffen?

Wir nehmen ja Christen und Muslime auf. Aber wir können nicht Christen und Muslime aus denselben Ländern haben. Sonst wird vielleicht ein Konflikt aus dem Ursprungsland hier weitergeführt.

Verstehen Sie es, wenn Schweizer Angst vor muslimischen Flüchtlingen haben?

Ich verstehe die Sorge. Aber aus Angst und Sorge darf nicht eine Abwehrhaltung resultieren. Das ist eine Sackgasse. Wir können als Konsequenz ja nicht sagen, wir nehmen keine Muslime auf. Denn in erster Linie kommen Menschen und nicht Christen oder Muslime. Also muss das staatliche Verfahren rasch verlaufen. Die zweite, viel schwierigere Aufgabe ist: Die Schweiz muss eine Politik verfolgen, dass die Leute früher oder später wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Die allermeisten möchten zurück. Sie sind nicht freiwillig hier. Deshalb ist es für mich eher schwer zu verstehen, wenn Gelder der Entwicklungszusammenarbeit gestrichen werden sollen. Wenn wir möchten, dass nicht viele Menschen kommen, dann muss es in Syrien, Eritrea oder im Irak andere gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen geben.

An den Terroranschlägen sieht man, wie gefährlich eine instrumentalisierte Religion sein kann. Macht Ihnen dies als Machtträger einer Kirche nicht auch Angst?

Ich sehe, dass Religion als Vehikel genutzt wird, um Ideen und Ideologien durchzusetzen. Da ist keine Weltanschauung davor gefeit. Deshalb braucht es eine ständige Selbstkritik dessen, was eine Religion glaubt und was sie damit bewirkt. Wir Christen sind da ziemlich weit. Aber denken Sie an die Auseinandersetzungen in Nordirland, wo die Konfessionen als Verstärker dienen.

Tun die Schweizer und gerade die Politik derzeit genug?

Das ist ein interessantes Phänomen. Ich habe das Gefühl, dass die Einzelnen grosse Empathie haben. Es gibt eine grosse Solidarität. Schweizerinnen und Schweizer sind auch grosse Spender. Auf der anderen Seite sehe ich, dass die staatlichen Institutionen bremsen. Dort, wo Solidarität zur Verpflichtung wird, auch durch ein Gesetz oder durch eine Vorgabe, ist der Staat sehr vorsichtig. Die Mentalität: «Wir haben genug Fremde, wir tun genug», ist wenigstens im politischen Bereich ziemlich verbreitet.

Sie verlangen mehr Solidarität?

Natürlich kann jedes Land immer noch mehr Solidarität zeigen. Aber genau dort, wo es um die Wurst geht, nämlich bei den wirtschaftlichen Beziehungen, beim Geld, ist die Schweiz eher ängstlich. Ich weiss nicht, ob die Schweiz die Staaten auf der arabischen Halbinsel schon je hart kritisiert hat. Manche dieser Staaten sind mindestens indirekt durch Finanzierungen mit ziemlich extremistischen Bewegungen verbunden. Aber weil wir mit diesen Staaten gute wirtschaftliche Beziehungen haben, kritisiert man wenig. Das ist ähnlich mit China. So sehr die Menschenrechte hier gelten: Werden sie anderswo weniger gut eingehalten, drückt die Schweiz schnell ein Auge zu. Das ist ein einfacherer Weg, der aber in eine Sackgasse führt. Diese Leute kommen jetzt einfach. Und kein Meer und kein Zaun, auch wenn er fünf Meter hoch ist, hält sie ab. In wirtschaftlichen Belangen braucht es das Sensorium, nicht so zu wirtschaften, dass ein Land im Süden vom Norden abhängig wird oder im Süden nur eine Elite gut leben kann.

Solche Aussagen zur Armut im Süden würde man im politischen Spektrum klar links verorten. Auch mit Ihren Aussagen zur Flüchtlingsproblematik oder zur Klimapolitik positionieren Sie sich links.

Es geht nicht um links oder rechts, sondern um den rechten Weg. Das Links-Rechts-Schema ist nicht anwendbar auf das gesellschaftliche Handeln eines Christen. Da geht es nur um die Frage: Was hilft dem Menschen? Unser Reichtum und unser gutes Leben haben nicht nur, aber auch mit der Armut von Drittweltländern zu tun. Ein Beispiel: In unseren Mobiltelefonen hat es Metalle, die durch Kinderarbeit gefördert werden. Es gäbe faire Alternativen, aber diese sind wenig verbreitet, weil sie teurer sind. Ein anderes Beispiel: Saatgut aus dem Norden macht die Bauern im Süden abhängig. Zahlreiche kirchliche Institutionen, inklusive Papst, entwickeln ein Gespür für die Gerechtigkeit zwischen Nord und Süd. Beim Klimagipfel sieht man es ebenfalls: Es gibt ein Nord-Süd-Gefälle. Der Norden produziert mehr Emissionen als der Süden. Aber der Süden leidet zuerst, etwa die Südseeinseln, von denen es einige wohl bald nicht mehr gibt.

Sie wehren sich, Ihre Aussagen politisch einzuordnen. Im Nationalratssaal würden diese aber klar in der linken Ecke verortet werden.

Das glaube ich nicht. Die Anliegen des Schutzes der Schöpfung, dazu gehört auch der Klimaschutz, sind nicht links oder rechts. Dies sind wissenschaftlich abgesicherte Anliegen. Es geht darum, unseren Planeten besser vor einer Katastrophe zu schützen. Da gibt es bürgerliche Politiker als auch eher linke, die dahinter stehen. Eigentlich streiten sie sich nur, wer es zahlen muss.

Im Gegensatz zu dieser – aus unsere Perspektive – doch eher linken Haltung steht die konservative oder gar erzkonservative gesellschaftliche Einstellung der Kirche.

Nein. Der Klimaschutz – also das Bewahren der Schöpfung – ist eine extrem konservative Angelegenheit. Zum Glück ist da die Kirche konservativ. Sie will bewahren, nämlich die Schönheit der Schöpfung. Für Sie ist das vielleicht nicht konservativ, für mich ist es eine gut konservative Angelegenheit.

Sie haben sich mehrmals politisch eingemischt. Wie politisch darf ein Bischof sein?

Ich mische mich nicht in die Politik ein, aber äussere mich wie alle Bürger.

Sie wissen doch, dass Ihre Aussagen politisch aufgefasst werden.

Aber das heisst nicht, dass ich mich einmische. Einmischen würde heissen, dass ich etwas tun würde, wo ich nicht dafür zuständig bin; etwa ein Asylverfahren durchführen. Das mache ich nicht. Ich helfe dem Staat nur, dass er sein Asylverfahren geordnet durchführen kann. Ich wähle ja nicht einmal die Leute aus, die kommen. Das macht der Staat. Aber es gibt gewisse Aussagen, die ein Bischof nicht nur darf, sondern tun muss, die politische Implikationen haben und auch auf der politischen Bühne landen. Denn schliesslich bestimmt die Politik die Regelung des Zusammenlebens der Menschen in unserem Land. Da ist man als Bischof genauso gefordert zu sagen, was man gut findet und was man weniger gut findet, wie alle anderen Menschen auch.

Sie haben im Frühling gesagt, das Boot sei noch nicht voll. CVP-Präsident Christophe Darbellay fühlte sich angegriffen und sagte, Christ zu sein, bedeute nicht, alle Menschen aufzunehmen. Die Kirche solle selbst zuerst handeln. Ist die Kirche der CVP nicht mehr so nahe, wie sie dies lange war?

Das müssen Sie Herrn Darbellay fragen. Ich weiss auch nicht genau, was er damit gemeint hat. Er hat ja auch wieder relativiert. Die Kirche unterstützt in jeder Partei das, was dem Zusammenleben der Menschen dient und die Würde der Menschen bewahrt und fördert.

Dass die Kirche einer Partei nahesteht, wie früher immer kolportiert, stimmt also nicht mehr?

Wer ist denn die Kirche? Die Kirche sind die Bürgerinnen und Bürger. Die sind in allen möglichen Parteien.

Wenn Sie sich zu Flüchtlingen äussern, erhalten Sie da viele negative Reaktionen von Ihrer Basis, die man eher als konservativ wahrnimmt?

Natürlich erhalte ich alle mögliche Reaktionen. Von positiv bis negativ. Das ist gut; dann weiss ich, was die Leute denken. Trotzdem muss ich als Bischof gewisse Dinge sagen oder tun. Ob gelegen oder ungelegen. Das war in der ganzen Kirchengeschichte so. Angefangen mit den Propheten. Dann Jesus. Manchmal sind gewisse Vertreter der Kirche auch ein wenig prophetisch. Und Propheten sind ungemütlich.

Sie entfernen sich mit solchen Äusserungen nicht von der Basis?

Nein.

Äusserungen von Ihnen werden als fortschrittlich wahrgenommen. Auf der anderen Seite steht Ihr Churer Amtskollege, der der schweizerischen katholischen Kirche einen erzkonservativen Stempel aufdrückt.

Da sieht man: Es gibt die eine katholische Kirche, die ein sehr grosses Dach hat. Darunter haben viele Leute und viele Arten des katholischen Lebens Platz. Das ist ein Zeichen für Toleranz.

Versuchen Sie, sich bewusst als Gegenpol zu Vitus Huonder zu positionieren?

Nein. Wir sind auch nicht Gegenpole. Wir haben einfach einen anderen Stil.

Progressive Katholiken haben grosse Hoffnungen in die Familiensynode in Rom gesetzt. Da kam wenig. Sind Sie enttäuscht?

Nein. Denn eine Synode ist eine Einrichtung, bei der man sich zusammen auf den Weg macht. Man macht zuerst einmal eine Auslegeordnung. Man hat dabei gesehen: Was die Familie ist, das ist nicht mehr so klar. Und zwar auf der ganzen Welt in ganz verschiedenen Gesellschaftsstrukturen. Die Familie ist ein riesiges und komplexes Thema. Es gibt verschiedene Formen und Wandlungen. Nun liegt ein Schlussdokument vor, aus dem der Papst Schlüsse zieht. Was da kommt, weiss nur der Papst.

Wir leben in einer Welt, die sich extrem schnell ändert. Auch gesellschaftliche Bilder wandeln sich rasant. Die Kirche verändert sich sehr langsam und lässt unzufriedene Gläubige warten. Sind Sie da nicht selbst mal ungeduldig?

Die Institution ist so alt und gross, dass Veränderungen nur langsam möglich sind. Dafür sind sie nachhaltig. Und Sachen, die schnelllebig sind, kann man auslassen. Es braucht in dieser schnellen Gesellschaft auch einen ruhenden Pol, der Halt und Sicherheit gibt. Das schenkt die Kirche den Leuten. Gott und die Botschaft der Barmherzigkeit sind uralt und doch immer wieder neu. Die Kirche ist ein Ort, wo ich mich besinne: Was will ich überhaupt mit meinem Leben? Jesus führt dich zu deinem Glück. Das bleibt auch in der schnelllebigen Zeit.

Besteht nicht die Gefahr, dass die Leute die Kirche nicht als ruhenden Pol wahrnehmen, sondern einfach «Adieu merci» sagen, weil die Kirche weit weg von ihren gesellschaftlichen Vorstellungen ist?

Klar, es nehmen es nicht immer alle Personen gleich wahr. Trotzdem sieht man, dass bei Ereignissen, wo es gut ist, auf so einen Pol zurückzugreifen, viele Menschen das Angebot wahrnehmen. Gerade Weihnachten ist ein gutes Beispiel. Die Leute möchten Weihnachten immer gleich feiern und sogar das Gleiche essen. Und vielleicht ist die Familie auch ein so ruhender Pol, wo man zu Hause ist, wo man sagen kann: Hier gehöre ich hin. Vielleicht ist eine Krise der Familie, dass man im schnellen Wandel nirgends mehr zu Hause ist.